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"Natter" - die erste bemannte Rakete
Hölzerne Höllenmaschine: Die „Natter“ - Start vor 75 Jahren
Am 1. März 1945 hob das erste senkrecht startende Flugzeug mit Raketenantrieb ab. Man könnte die Bachem Ba 349 aber auch als erste bemannte Rakete bezeichnen. Die „Natter“ (so ihr Projektname) war eine Mischkonstruktion aus Rakete und Flugzeug mit Sollbruchstelle, ein teil-recycelbarer Einmal-Abfangjäger. Ihr erster bemannter Testflug endete im Desaster.
Die „Natter“ entstand in den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges, als Deutschland an allen Fronten in die Defensive geraten war und mit wachsender Verzweiflung nach „Wunderwaffen“ suchte, um sich gegen die unabwendbare Niederlage zu stemmen. In dieser Situation entstanden etliche ebenso innovative wie irrwitzige Ingenieursentwicklungen, die aus technikgeschichtlicher Sicht oft interessant sind. Darunter waren einige echte Pionierleistungen wie das erste Raketenflugzeug, die Messerschmitt 163, oder die erste Rakete, die den Weltraum erreichte. Letztere, das sogenannte „Aggregat 4“ – besser bekannt unter seinem Propagandanamen „V2“ – wurde von Wernher von Braun entwickelt, der später mit dem Apollo-Programm die USA auf den Mond brachte.
Aus der Not geboren
Auch das Konzept zur „Natter“ stammte ursprünglich von Wernher von Braun. Der Raketen-Pionier hatte bereits 1939 den Vorschlag für einen raketenbetriebenen Abfangjäger gemacht, aber das Reichsluftfahrtministerium lehnte die Idee ab. Einige Jahre später, als Hitlers Luftwaffe den alliierten Bombern fast nichts mehr entgegensetzen konnte und das „Jägernotprogramm“ ins Leben rief, erinnerte sich der Ingenieur Erich Bachem an Brauns Idee. Er entwarf ein kostengünstiges Raketenflugzeug, das sehr schnell auf die Flughöhe der angreifenden Bomber gelangen sollte.
Da es der Luftwaffe mittlerweile an erfahrenen Piloten, geeigneten Metallen und sicheren Startbahnen mangelte, schien Bachems „Natter“ in dieser Situation vielversprechend: Teile des Flugzeugs waren aus Sperrholz gefertigt, das man noch reichlich zur Verfügung hatte. Zum Abheben benötigte es nur einen 24 Meter hohen Gerüstturm mit Führungsschienen, aber keine Startbahn. Auch keine Landebahn, denn nach dem Abfeuern seiner Waffen sollte sich der Pilot per Fallschirm aus dem Holzcockpit schleudern. Der Rumpf sollte planmäßig zerfallen: Während der hölzerne Teil abstürzte, glitt das Raketentriebwerk an einem Fallschirm zur Erde und konnte wiederverwendet werden. Da der Flug nur sehr kurz dauern und teilweise per Funk vom Boden aus zu steuern sein sollte, eigneten sich selbst minimal ausgebildete, unerfahrene Piloten für diesen Einsatz.
Die SS setzte auf die „Natter“
Soweit die Theorie der „Natter“. Bachem konnte zwar das Reichsluftfahrtministerium nicht von seinem Konzept überzeugen (dort setzte man auf vergleichbare Projekte wie die Heinkel P.1077 „Julia“), dafür aber Heinrich Himmler. Längst war dessen SS mächtig genug geworden, eigenständige Rüstungsforschung in Konkurrenz zu Luftwaffe und Wehrmacht zu betreiben. Himmler beauftragte Bachem mit der Konstruktion und Erprobung der „Natter“.
Erich Bachem (1906-1960) hatte zuvor Segelflugzeuge und Wohnwagen konstruiert (letzteres nahm er nach dem Krieg auch wieder auf), für den Flugzeugfabrikanten Fieseler gearbeitet und sich 1942 mit einem eigenen Zulieferbetrieb in Waldsee (Württemberg) selbständig gemacht. Einige seiner Entwicklungen für Fieseler wurden patentiert, etwa „Hohlkörper in Flügeln“ ( DE715100A, 1938) oder „Schalenförmiger Motorträger“ ( DE735675A, 1941). Nach dem Krieg meldete er u.a. ein „Vervielfältigungsgerät“ zum Patent an ( DE802367B, 1948).
Einfache Konstruktion mit Sollbruchstellen
Bachems Entwurf war vergleichsweise einfach zu bauen. Die Stummelflügel der „Natter“ waren einfache, rechteckige Holzplatten ohne Querruder oder Klappen. Als Triebwerk diente ein Walter 109-509A Raketenmotor, der auch in der Me 163 „Komet“ zum Einsatz kam, dem ersten Raketenflugzeug.
Konstrukteur des Triebwerks war Hellmuth Walter (1900-1980), der schon in jungen Jahren etliche Patente zu Antrieben angemeldet hatte (z.B. DE491156A, 1925). Sein Raketenmotor 109-509A setzte auf die Kombination von zwei flüssigen Treibstoffen, dem „T-Stoff“ (einer stark ätzenden Lösung aus Wasserstoffperoxid mit einer stabilisierenden Chemikalie) und dem „C-Stoff“ (ein Gemisch aus Hydrazinhydrat, Methanol und Wasser). Bei deren Vermischung kam es zu einer spontanen Verbrennung, so dass im Umgang äußerste Vorsicht geboten war. Der Walter-Motor erzeugte etwa 1.700 kg Schub, was für den Start nicht ausreichte. Für zusätzlichen Antrieb sorgten daher vier Schmidding 109-533 Feststoffraketen, die etwa 10 Sekunden brennen und sich dann selbst vom Heck der „Natter“ absprengen sollten. Motor und Raketen sorgten zusammen für einen Gesamtschub von 63,8 KN. Bachem errechnete eine maximale Steigrate von 11.563 Meter pro Minute, aber das bestätigte sich in der Praxis wohl nicht.
„Bierkasten-Flak“ gegen Bomber
Die „Natter“ sollte so in wenigen Sekunden die Flughöhe der allliierten Bomber erreichen. Dann sollte der Pilot die Steuerung übernehmen, sich in Schussdistanz bringen und auf einen Schlag alle 24 Henschel Hs 217 „Föhn“-Raketen abfeuern, die sich in der Nase der Bachem Ba 349 befanden. Diese nicht steuerbaren Raketen hatten eine Reichweite von etwa 1200 Metern und waren ursprünglich zur Abwehr von Tieffliegern vom Boden aus entwickelt worden. Sie wurden aus eckigen Batterien abgefeuert, daher der Spitzname „Bierkasten-Flak“. Nun sollten sie als frühe Luft-Luft-Raketen eingesetzt werden.
Der Brennstoff reichte nur für wenige Minuten Flugzeit. Der Pilot hatte nur ein sehr kleines Zeitfenster für seinen Angriff. Danach ging die „Natter“ in einen Sinkflug bis auf etwa 1500 Meter Höhe. Nun sprengte der Pilot die Sperrholz-Hälfte des Fluggeräts ab, während ein Fallschirm auslöste, der das Heck mit dem Walter-Triebwerk sicher zur Erde bringen sollte. Der Pilot, der durch die Verzögerung aus seinem Sitz geschleudert wurde, musste dann seinen eigenen Fallschirm betätigen. Die Holzteile sollten planmäßig am Boden zerschellen.
Erster bemannter Raketenstart
Bei ersten Tests wurde die „Natter“ wie ein Segelflugzeug in die Luft geschleppt und ausgeklinkt; die Flugeigenschaften sollen brauchbar gewesen sein. Weitere Tests funktionierten wie geplant, so dass Ende Februar eine „Natter“ mit einem Piloten-Dummy gestartet werden konnte. Der Versuch war ein Erfolg, nur entzündeten sich die Treibstoffreste im Walter-Motor bei der Landung; das Triebwerk explodierte (durchaus vorhersehbar – und dies war nur eine von mehreren Fragwürdigkeiten im Konzept der „Natter“).
Bachem wurde aus Berlin unter Druck gesetzt, nun den ersten bemannten Testflug anzusetzen. Am 1. März 1945 kletterte der 22-jährige Lothar Sieber in das Cockpit der „Natter“ auf dem Testgelände bei Stetten am kalten Markt. Der Start schien zunächst geglückt, aber nach wenigen Sekunden geriet die Bachem in einer Höhe von etwa 500 Metern in Rücklage, flog einen Bogen und zerschellte einige Kilometer entfernt am Boden. Lothar Sieber war der erste Mensch, der mit einer Rakete senkrecht startete (erst 1961 sollte Yuri Gagarin folgen), aber er bezahlte mit seinem Leben.
Das Ende der „Natter“
Was zu dem Absturz führte, wurde nie vollständig geklärt. Möglicherweise war die Cockpit-Klappe nicht richtig verschlossen und der Kopf des Piloten deshalb beim Start nach hinten an die Verkleidung geschleudert worden, was ihn entweder bewusstlos schlug oder sofort tötete.
Trotzdem sollen weitere bemannte Tests stattgefunden haben, aber das Heranrücken der Alliierten setzte der Entwicklung ein Ende. Zum Einsatz kam die Ba 349 nie. Alle gebauten „Nattern“ wurden gesprengt oder in Richtung Alpen verlagert, wo die letzten den Amerikanern in die Hände fielen. Eine vollständig original erhaltene „Natter“ findet sich nur noch in einem Depot des National Air and Space Museum in Maryland. Eine restaurierte Bachem Ba 349 ist aber in direkter Nachbarschaft zum DPMA im Deutschen Museum in München zu sehen.
Text: Dr. Jan Björn Potthast; Bilder: Public domain via Wikimedia Commons
Stand: 09.04.2024
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