Inhalt
150. Geburtstag Gustav Weißkopfs
Gustav Weißkopf mit seiner kleinen Tochter und der "Nr. 21", 1901
Das ewige Rätsel um den ersten Motorflug der Welt
Geflogen oder gelogen, das ist hier die Frage: Vielleicht fand am 14. August 1901 in Bridgeport, Connecticut der erste Motorflug der Welt statt – vielleicht aber auch nicht. Wenige Fragen der Technikgeschichte werden so hitzig diskutiert wie die, ob nun die Gebrüder Wright die ersten Motorflieger waren, als sie am 17. Dezembers 1903 mit ihrem „Flyer“ in Kitty Hawk abhoben – oder doch Gustav Weißkopf mehr als zwei Jahre zuvor?
„Von der Parteien Gunst und Hass verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte“: Schiller schrieb dies über Wallenstein, aber es könnte auch für Weißkopf gelten. Zur Strategie der Wright-Anhänger gehört es seit einem Jahrhundert, den Bayern wahlweise als Windbeutel, Träumer oder chronischen Aufschneider zu diskreditieren. Andere sehen in ihm einen Visionär, exzellenten Ingenieur und ruhmreichen Pionier.
Die Weißkopf-Kontroverse ist ein echter Wissenschafts-Krimi mit Schurken und Helden, ohne dass ganz klar zu sein scheint, wer nun eigentlich wer ist. Fakt ist, dass sich nicht völlig zweifelsfrei beweisen lässt, dass Weißkopfs Motorflug vom 14. August 1901 tatsächlich stattgefunden hat. Fakt ist aber auch, dass die Wrights ihren Anspruch auf den Ruhm des ersten Motorflugs einerseits zielstrebiger und eloquenter, andererseits aber teilweise auch mit fragwürdigen Mitteln durchsetzten. Und dass auch ihr Erstflug manche Frage aufwirft ...
Ein Bayer in Boston
Aber zum Beginn der Geschichte: Gustav Albin Weißkopf wird am 1. Januar 1874 in Leutershausen bei Ansbach geboren. Seit 1974 ehrt ihn die fränkische Gemeinde mit einem Museum, das kürzlich neu gestaltet wurde. Über seine frühen Jahre ist nicht viel bekannt: Beide Eltern sterben, als er noch ein Kind ist. Er ist vorübergehend Lehrling bei einem Buchbinder und einem Schlosser, landet dann in Hamburg auf einem Segelschiff (wahrscheinlich wurde er "schanghait") und ist wohl einige Jahre als Seemann unterwegs. Er soll sich auch länger in Brasilien aufgehalten haben. Ab 1894 ist er jedenfalls in den USA nachweisbar und amerikanisiert seinen Namen zu „Gustave Whitehead“.
In Boston arbeitet er als Assistent des Harvard-Professors William Pickering. Hier trifft er James Means, der 1895 die „Boston Aeronautical Society“ gründet. Er will Fluggleiter nach dem Vorbild Otto Lilienthals bauen. Weißkopf wird engagiert, da er behauptet, Lilienthal zu kennen und sogar mit ihm gearbeitet zu haben (was sich, wie manches in Weißkopfs Vita, nicht eindeutig belegen lässt). Er dürfte aber Lilienthals Schriften für die Society übersetzt haben.
1897 finden wir ihn in New York, wo er eigene Fluggleiter baut und diese erfolgreich der Öffentlichkeit und der Presse vorführt. Wenige Wochen später heiratet er und gibt in seinem Trauschein als Beruf „Aeronaut“ an. Er zieht nach Pittsburgh, wo es bereits 1899 zu einem ersten Flug mit einem dampfmotorgetriebenen Gleiter gekommen sein soll, der aber an einer Hauswand endete. Für diesen und weitere Flüge Weißkopfs gibt es einzelne Zeugenaussagen, aber keine weiteren Belege.
„Nr. 21“ hebt ab
1900 zieht er nach Bridgeport, wo er sein Fluggerät Nr. 21, genannt „Condor“, entwickelt. Er entwirft und baut sowohl das Flugzeug als auch die Motoren selbst - nebenbei, während er mit anderen Jobs den Lebensunterhalt für seine Familie verdient. Der „Condor“ verfügt über zwei Propeller, die von einem 20 PS-Motor angetrieben werden, und über ein Fahrwerk mit einem zusätzlichen 10 PS-Motor zur Startbeschleunigung. Damit kann die "Nr. 21" bei zusammengeklappten Flügeln auch auf der Straße fahren.
Und mit dieser "Nr. 21" kommt es in den frühen Morgenstunden des 14. August 1901 zum ersten motorgetriebenen Flug der Geschichte – wenn man einem Reporter der lokalen Wochenzeitung „Bridgeport Sunday Herald“ glauben möchte.
Um kein Aufsehen zu erregen, wird die „Nr. 21“ um Mitternacht von Weißkopf und seinen beiden Mitarbeitern Dickie und Celli auf die Straße gerollt. Dann fährt sie aus eigener Kraft zum Testgelände, einer großen Wiese, so berichtet der Reporter (möglicherweise „Herald“-Chefredakteur Richard Howell). Dort kommt es zunächst zu einem unbemannten Testflug mit zwei Sandsäcken als Gewicht anstelle des Piloten. Die Motoren werden angeworfen, die Assistenten halten mit Seilen die Maschine fest. Dann wird die "Nr. 21" frei gelassen – und hebt ab: „Sie sah aus wie eine große weiße Gans, die sich im Morgengrauen in die Lüfte schwingt“, berichtet der Reporter. Ein Zeitschalter sorgt dafür, dass die Motoren nach kurzer Zeit ausgehen; die Maschine gleitet wieder zu Boden.
Weißkopf ist vom Test begeistert. Kurze Zeit später steigt er selbst mit der "Nr. 21" auf, die damit zum ersten echten Flugzeug der Geschichte wird. Er fliegt einige Minuten geradeaus, weicht durch Gewichtsverlagerung einigen Bäumchen aus und landet wieder sicher.
Bridgeport Sunday Herald, 18. August 1901, Seite 5
Es war ein aufregender Moment. "Wir können sie nicht halten!", schrie einer der Seilmänner. "Dann lasst los!" rief Whitehead zurück. Sie ließen los und die Maschine zischte in die Luft wie ein Vogel, der aus einem Käfig befreit wurde. Whitehead war sehr aufgeregt und seine Hände flogen von einem Teil der Maschine zum anderen.
Der Reporter und die beiden Assistenten standen für einen Moment still und beobachteten das Luftschiff erstaunt. Dann eilten sie ihm den Hang hinunter nach. Sie flog jetzt etwa fünfzig Fuß über dem Boden und machte ein Geräusch, das dem "Tuck, Tuck, Tuck, Tuck," eines Aufzugs ähnelt, der den Schacht hinunterfährt. (…)
Er blickte zurück und winkte mit der Hand und rief: "Ich habe es endlich geschafft." Er war nun eine halbe Meile lang durch die Luft geflogen, und als er sich dem Ende des Feldes näherte, schaltete der Aeronaut den Motor ab und bereitete sich auf das Landen vor. Er schien ein wenig ängstlich zu sein, dass die Maschine vorwärts oder rückwärts kippen würde, aber es gab keine Anzeichen für eine solche Bewegung seitens des großen Vogels. Sie ließ sich aus einer Höhe von etwa fünfzig Fuß in zwei Minuten nach dem Stillstand der Propeller nieder. Und sie setzte so sanft mit ihren vier Holzrädern auf dem Boden auf, dass Weißkopf nicht im Geringsten durchgeschüttelt wurde.
Wie der Erfinder vor Freude strahlte! (…) "Ich habe Ihnen gesagt, dass es ein Erfolg wird", war alles, was er für einige Zeit sagen konnte. (…) Seit Monaten, ja Jahren hatte er sich auf diesen Moment gefreut, an dem er wie ein Vogel durch die Luft fliegen würde, mit Mitteln, die er selbst erdacht hatte. Er war erschöpft und setzte sich auf das grüne Gras neben dem Zaun und blickte in die Ferne, wo die ersten Lichtstrahlen der Sonne über den grauen Nebel schossen, der sich an den Schoß des Long Island Sound schmiegte. (…)
Das meistgesuchte Foto der Technikgeschichte
Der Reporter soll ein Foto des Fluges gemacht, das jedoch verschollen ist. Erhalten geblieben ist dagegen eine Lithographie, die mit dem Bericht am 18. August 1901 abgedruckt wurde. Dass es kein Foto des Fluges gibt, ist ein Hauptargument der Weißkopf-Gegner. Allerdings war es damals bei den Zeitungen üblich, Lithographien nach Fotos zu gestalten und diese abzudrucken. Das war erheblich einfacher und günstiger; außerdem war um 1900 die Bildqualität von Fotos oft noch sehr schlecht, besonders bei solchen Schnappschüssen.
Der Bericht des „Bridgeport Herald“ wurde von etlichen anderen Blättern aufgegriffen. Der Flughistoriker und Pilot John Brown, der durch seine Veröffentlichungen 2013 den Streit um den ersten Motorflug neu entfacht hat, fand nach eigenen Angaben 136 zeitgenössische Artikel über die Motorflüge Weißkopfs in den Jahren 1901/1902.
Im Januar 1902 will Weißkopf seine „Nr. 22“ gebaut haben, nun nicht mehr aus Holz und Leinwand, sondern Metall und Seide. Augenzeugen berichtet über einen 40 PS-Selbstzündermotor und ein Seitenruder (eine Erfindung, die die Gebrüder Wrights später für sich reklamierten). Damit will ihm am 17. Januar 1902 ein Flug von etwa 11 km Länge über den Long Island Sound gelungen sein.
Keine Patente, die Weißkopfs Anspruch untermauern
Problematisch ist, dass Weißkopf gelegentlich widersprüchliche Angaben zu seinen Flügen und Apparaten machte. Im Gegensatz zu den Wrights scheint er seine Versuche nicht ausführlich dokumentiert zu haben. Von der „Nr. 22“ gibt es keine Bilder, daher spekulieren Weißkopf-Gegner, sie habe nie existiert. Aufschlussreich ist, dass Whitehead/Weißkopf erst im Dezember 1905 ein Patent für ein „Aeroplane“ ( US881837A) beantragt – dabei handelt es sich aber um einen Gleiter ohne Motor. Das gleiche Gerät meldet er auch in Großbritannien ( GB190805312A) , Frankreich und Österreich (als „Drachenflieger") an.
Die Wrights hingegen – Profis in PR wie in IP! – hatten bereits das Patent auf ihren Flyer angemeldet ( US821393A (1,22 MB), "Flying Machine"), bevor sie ihre Erstflüge in Kitty Hawk machten. Später reichten sie noch viele weitere Anmeldungen ein (u.a. US1075533A (1,22 MB), US1122348A).
Schutzrechtsmanagement und PR scheinen nicht zu den Stärken Weißkopfs gezählt zu haben, ebenso wenig kaufmännisches Gespür. Vielleicht hatte er aber auch bloß kein großes Interesse an der Selbstvermarktung, da er das Gefühl hatte, seine ehrgeizigen technischen Ziele noch nicht erreicht zu haben: „Die Flüge taugen alle nichts, weil sie nicht lange genug anhalten“, soll er gesagt haben. „Das Fliegen wird erst dann eine Bedeutung erhalten, wenn wir jederzeit an jeden beliebigen Ort fliegen können.”
Trauriges Ende
„Whitehead“ wird in den nächsten Jahren dank der Berichte über seine Flüge recht bekannt. Er lässt sich aber geschäftlich mit den falschen Leuten ein, erleidet finanziellen Schiffbruch und konzentriert sich künftig darauf, Motoren für Fluggeräte zu bauen (möglicherweise recht erfolgreich, aber auch das ist in der Literatur umstritten). Er scheint keine weiteren geglückten Flugversuche unternommen zu haben (zumindest sind keine dokumentiert), was für Weißkopf-Kritiker ein Argument ist, auch die Flüge von 1901-02 in Frage zu stellen.
Nachdem seine Motorenfabrik pleite geht, hält Weißkopf seine Familie und sich als einfacher Fabrikarbeiter über Wasser. Er stirbt am 10. Oktober 1927 mit nur 53 Jahren verarmt in Bridgeport.
Ein dubioser Geheimvertrag
Flog er nun oder nicht? Für Weißkopf-Forscher John Brown ist klar: Die vorliegenden Zeugenaussagen und Berichte würden vor Gericht als Beweismaterial für eine Verurteilung ausreichen; warum also im Umkehrschluss Weißkopf die Anerkennung länger verweigern?
Das fehlende Foto ist stets das Hauptargument der Weißkopf-Gegner. Vom Erstflug der Gebrüder Wright existieren dagegen gestochen scharfe Fotos. Als in den 1930er Jahren die Diskussion um den ersten Motorflieger entbrannte, führte Orville Wright gegen Weißkopf an, dieser habe direkt nach seinem Erstflug auffällig wenig öffentlichen Wirbel gemacht (obwohl die Zeitungen ja berichteten). Das erscheint im Rückblick kurios, da die Wrights ihrerseits erst fünf Jahre nach dem Hopser von Kitty Hawk Fotos veröffentlichten und die PR-Trommel für ihren Erstflug rührten. Deshalb ist auch nicht mit letzter Sicherheit belegt, dass diese Fotos wirklich bereits 1903 entstanden oder dass der Flyer tatsächlich aus eigener Kraft abgehoben hat.
Zu den einflussreichen Gegnern der Weißkopf-These zählen das National Air and Space Museum der Smithonian Institution in Washington und sein Kurator Tom Crouch. Dessen vehemente Unterstützung der Gebrüder Wright und Ablehnung Weißkopfs hat allerdings einen Beigeschmack: Als Orville Wright 1948 den originalen Flyer von Kitty Hawk dem Museum überließ, musste es einen Geheimvertrag unterzeichnen. Darin verpflichtete es sich, niemals in Frage zu stellen, dass es die Wrights waren, denen der erste Motorflug der Geschichte gelang.
Verschwommener Beweis?
Auf der Fotografie einer Ausstellung des „Aero Club of America“ 1906 in New York will John Brown ein Bild entdeckt haben, das Weißkopfs Erstflug zeigen und als Vorlage für die Lithographie gedient haben soll. Allerdings ist dieses Bild im Bild so klein und verschwommen, dass seine Interpretation recht gewagt erscheint. Aber Browns Thesen sorgten dafür, dass die Diskussion wieder entflammte. Das älteste Fachmagazin „Jane’s All the Worlds Aircraft“ erkannte 2013 den Anspruch von Gustav Weißkopf auf den ersten Motorflug an, relativierte diese Festlegung aber wenig später.
Warum versuchte Weißkopf es nicht weiter?
Weißkopf-Gegner führen oft die Tatsache ins Feld, dass er nach den einigermaßen dokumentierten erfolgreichen Versuchen mit der "Nr. 21" und den nicht belegbaren längeren Flügen mit der "Nr. 22" im Jahr darauf offenbar keine weiteren Versuche mit Motorflugzeugen mehr unternahm. Tatsächlich scheint Weißkopf zwar weiter Motoren, aber ansonsten nur noch Segelgleiter gebaut zu haben.
Es gibt einige gute Gründe, die Weißkopf dazu bewogen haben könnten, die Motorflugversuche einzustellen: etwa seine finanziellen Probleme, sein kaufmännisches Ungeschick, die enormen Risiken, die Rücksicht auf seine Familie (er hatte mittlerweile drei kleine Kinder), die Arbeit an seinen Patentanmeldungen, Ablenkung durch andere Aufgaben wie den Aufbau seiner Motorenmanufaktur und Erschöpfung durch die jahrelange berufliche Doppelbelastung. Oder schlicht Frustration: Seine Flugversuche haben ihm möglicherweise bewusst gemacht, dass er sein Ideal eines gelenkten, vogelähnlichen Langstreckenfluges mit seinen Mitteln nicht erreichen konnte. Pech kam wohl auch noch dazu: Die "Nr. 22" wurde, da sie ungeschützt im Hinterhof stand, durch Winterwetter schwer beschädigt, heißt es; einen Motoren-Prototyp soll ein Geldgeber bei der Erprobung per Boot versehentlich im Long Island Sound versenkt haben.
Möglicherweise spielten auch noch gesundheitliche Probleme eine Rolle. Sicher ist, dass er sich durch mehrere Arbeitsunfälle in seiner Werkstatt schwer verletzte: Er verlor ein Auge; eine heftige Brustverletzung könnte möglicherweise den Herzinfarkt begünstigt haben, dem er später erlag.
Ehre, wem Ehre gebührt!
Unabhängig davon, wer nun tatsächlich der erste Motorflieger war: Die Bedeutung der Wrights für die Entwicklung der Luftfahrt war weitaus größer, da sie ab etwa 1908 als gewiefte Unternehmer, streitlustige Durchsetzer ihrer Patente und PR-Profis die ersten Jahre des Fliegens dominierten.
Sicher ist also einstweilen nur, das Gustav Weißkopf zu den bedeutenden Pionieren des Luftfahrtzeitalters gehört. Auch anderen schreibt man mehr oder weniger erfolgreiche Versuche mit Motorgleitern zu, etwa Clément Ader (Frankreich 1890), Augustus M. Herring (USA 1898) Wilhelm Kress (Wien 1901), Richard Pearse (Neuseeland 1903), Karl Jatho (Hannover 1903) oder Samuel Langley (USA 1903).
Im Vergleich zu diesen anderen Pionieren ist die Indizienlage für einen erfolgreichen Flug bei Weißkopf ungleich besser. Aber wohl leider doch nicht gut genug, um die Wrights in der öffentlichen Wahrnehmung vom Sockel zu stoßen, wie es scheint. Viellleicht ist ja der 150. Geburtstag des mutigen Franken endlich der Anlass, ihm die Ehre zu erweisen, die ihm (höchstwahrscheinlich) gebührt: der erste Motorflieger der Welt gewesen zu sein!
Text: Dr. Jan Björn Potthast; Bilder: Valerian Gribayedoff/Public domain via Wikimedia Commons, DEPATISnet, Public domain, via Wikimedia Commons, Bridgeport Sunday Herald - Public domain via Wikimedia Commons, via Wikimedia Commons, John T. Daniels - Public domain via Wikimedia Commons, Gustav Weisskopf Museum Pioniere der Lüfte, Public domain via Wikimedia Commons
Stand: 09.04.2024
Soziale Medien